Freie Sicht – Theater Marabu
Am Freitagabend, dem 11. Dezember 2015, traf ich mich gemeinsam mit denartonauten im Theater Marabu in Beuel, um das Jugendstück „Freie Sicht“ anzuschauen.
Mir wurde schon nach einigen Minuten klar, dass das Stück schwer zu begreifen ist, da vieles in Metaphern ausgedrückt und überspitzt dargestellt war. Trotz dieser Schwierigkeit wurde ich sofort von den Schauspielern in den Bann gezogen und wollte unbedingt erfahren, was hinter der Geschichte steckt. Ich kann sagen, dass das Stück aus verschiedenen Themen besteht. Da ist zum Beispiel das Thema Angst. Was verbirgt sich hinter dem Fleck im Wohnzimmer? Wenn man ihn berührt, wächst schwarzer Pelz auf den Handflächen. Der schwarze Pelz ist für mich ein Synonym für die stetig wachsende Angst vor dem Unbekannten. Oder hat die schwarze Katze etwas damit zu tun?
Ein weiteres Thema ist Misstrauen. Die Eltern unterstellen ihrer Tochter einen terroristischen Anschlag. Ohne mit der Tochter zu sprechen oder sie zu Rede zu stellen, besprechen sie diese Behauptung mit anderen Eltern und immer abstraktere Geschichten werden sich ausgedacht. Auch das Thema Einsamkeit spielt eine große Rolle. Diese wird von der Tochter erlebt, die die ganze Spielzeit über in ihrem Zimmer sitzt und nichts von den Intrigen der Eltern mitbekommt. Sie merkt allerdings, dass etwas nicht stimmt: Die Eltern schauen sie nicht mehr an, brechen mitten im Satz ab und verschließen sich vor ihr. Das aus meiner Sicht recht surreale Stück löst am Ende durch die Erzählung der Tochter zumindest das wahre Geschehen auf. Trotzdem blieben mir noch viele Fragen offen.
Das Gespräch, an dem wir artonauten am Ende noch teilgenommen haben, war sehr hilfreich. Es konnten einige Szenen besprochen werden und es wurde deutlich, dass es viele verschiedene Interpretationsansätze für das Stück von Marius von Mayenburg gibt. Dass die Themen auch für andere Länder interessant sind, zeigt die Übersetzung des Manuskripts in 30 Sprachen.
Meiner Meinung nach ist es den Schauspielern sehr gut gelungen, den schwierigen Text umzusetzen und das Stück bis zum Ende hin durch Choreographien und Special-Effects interessant zu gestalten. Die Darsteller haben sehr überzeugend gespielt und haben die ernsteren Themen zwischenzeitlich gut aufgelockert. Die vielen offenen Fragen lieferten mir viele Denkanstöße und waren nicht unangenehm. Ich würde sogar nochmal in diese Stück gehen.
– Antonia (14) –
So weit kann Paranoia führen. In dem Theaterstück „Freie Sicht“, das seit dem 14. August 2015 unter der Regie von Tina Jüncker und Claus Overkamp im Theater Marabu in Bonn aufgeführt wird, geht es um ein junges Mädchen, das beschuldigt wird, eine Terroristin zu sein, nur weil sie ein grünes Paket, mit unbekanntem Inhalt, in einen Mülleimer im Einkaufszentrum steckt. Panik! Bombe! Sofort schlagen die Eltern Alarm. Eine regelrechte Hysterie wird ausgelöst. Sie zeigen ihre Tochter aus Angst an und malen sich das Schlimmste aus. Doch mit dem Mädchen reden, das will keiner. Das Stück von Marius von Mayenburg zeigt somit die Folgen von Terrorangst in einem Überwachungsstaats, in dem von jedem sofort das Schlimmste angenommen wird.
„Freie Sicht“ überzeugte vor allem durch vielfältige Theatermittel: Das Ensemble arbeitete mit beeindruckenden Lichteffekten, Schattenspielen und Live-Videosequenzen. Außerdem erzeugten die Schauspieler selbst verschiedene Sounds wie zum Beispiel Vogelgezwitscher oder Straßenlärm. Das hatte den Effekt, das man etwas von der Härte des Stückes nahm und die verschiedenen Szenen realistischer wirken ließ. Auch der Text wurde kreativ umgesetzt, mal sprachen die Erwachsenen, die zur Unterstreichung ihrer fehlenden Individualität als „Schwarm“ bezeichnet werden, als monotoner Chor und mal setzten einzelne Charaktere ihre Texte mit viel Leidenschaft um. So betonte das Ensemble wichtige Wendepunkte und Konflikte der Figuren. Ein Beispiel dafür ist die Debatte des Schwarms, wer mit dem Mädchen reden muss. Letztendlich tut es niemand. Um die Gleichheit und die Gesichtslosigkeit des Schwarms noch stärker hervorzuheben, trugen die Schauspieler einheitlich grau-beige Kostüme. DerText war perfekt eingeübt.
Durch das Zusammenspiel dieser stilistischen Mittel sog das Ensemble die Zuschauer in seinen Bann und erzeugte eine Spannung, die beinahe das gesamte Stück über anhielt.
Leider war die Handlung schwer verständlich, unter anderem, weil der Inhalt des Stückes etwas übertrieben dargestellt war. Niemand würde sofort ein kleines Mädchen des Terrorismus beschuldigen. Die Meinungen und Gefühle der Figuren wurden derart deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie nur wenig mit der Realität zu tun hatten. So konnte der Zuschauer die Reaktionen der Schauspieler schwer nachvollziehen. Außerdem wechselten die Themen der Dialoge zwischen den Schauspielern sehr häufig und unvorhergesehen, was dazu führte, dass man den Gesprächen nur mit viel Mühe folgen konnte. Dies regte zwar zum Nachdenken an , trug jedoch nicht zu einem besseren Verständnis bei. Zum Beispiel wurde zu Anfang die gesamte Aufmerksamkeit des Publikums auf einen schwarzen, größer werdenden Fleck gerichtet, der eigentlich nicht relevant für die Handlug ist.
Die Altersgrenze, die bei 14 Jahren liegt, anzuheben, wäre jedoch keine ideale Lösung, da das Stück vermutlich sowohl für ältere als auch für jüngere Altersklassen ähnlich schwer verständlich ist: Die Herausforderung liegt darin, durch die bunte Handlung hindurch, auf den wesentlichen Inhalt zu schauen, nämlich dass die Angst vor Terrorismus paranoid macht und Beziehungen zwischen Menschen zerstören kann. Dabei müsste nicht jeder ein potenzieller Täter sein, wenn man etwas mehr miteinander kommunizieren würde.
Wer sich „Freie Sicht“ also gern ansehen möchte, sollte sich bewusst sein, das es anspruchsvoller ist und viel Konzentration abverlangt. Daher ist es nicht für eine leichte „Nachmittagsberieselung“ geeignet.
Zum Schluss werden allerdings die meisten Fragen der Zuschauer gelüftet, denn in einem Zeitsprung in die Vergangenheit wird gezeigt, was die wahren Absichten der verdächtigen Tochter waren und was es mit dem ominösen Päckchen auf sich hatte.
Insgesamt ist „Freie Sicht“ eine sehr moderne Inszenierung, vor allem durch Text und Theatermittel. Es gab einige beeindruckende Höhepunkte, beispielsweise, als der Schwarm sich fragt, was wohl in dem Paket sein könnte, oder als am Ende schließlich Scharfschützen anrücken, aber es war zum Teil schwierig, Zusammenhänge zu erschließen.
– Marie (14) –
Fotos © Ursula Kaufmann